Schildkröten verlieren ihren Panzer nicht


Frankreich - im Süden - war noch nie da gewesen - erst waren da die jungen Leute, ihre Wohngemeinschaft, die etwas Grausames, nie Angesprochenes hatte, hervorgerufen durch ihr Zusammengewürfeltsein, die Unwilligkeit mit der ihre jungen Seelen dies auf sich nehmen ließ - dies und das Singen - das Singen auf der Straße in weißen Kleidern - geordnet hintereinander sich aufs schmutzige Pflaster setzend - schon den Bettelbrief hervorziehend - nie bemerkend, wie er sie bewachte, beobachtete, missbrauchte, sich unterschied von ihrer Jugend und dennoch unter ihnen blieb wie einer von ihnen.

 

Frankreich - ganz im Süden - war unerwartet warm, ja heiß - wollte mit ihnen reden - in der Wohngemeinschaft - ihnen meine alarmierende Eindrücke schildern, sofern, noch nicht wissend was sie hielt, ahnend, dass sie gebunden, sich treibenlassend verloren.

 

Frankreich - ganz dort unten im Süden - jemand hat auf die Straße gespuckt - irgendwann - und vor ihm noch viele Jemande - nicht klebrig mehr, aber einfach spürbar - die schmutzige Gewalt roher Männer, die die nichts schlimm finden, wie auch die anderen Bereich, in denen sie keine Kultur vorzuweisen haben, weil sie ja auch nichts vorweisen müssen.

Ein Mann ist es, ein junger - einer aus der weiß gekleideten Gemeinschaft - einer mit ungewaschenem Gesicht - es ähnelt dem fleckigen Pflaster, registriert - bevor ich zögere - er spürt es - er ahnt es - seine Gedanken bei mir - das Pflaster als unpassend mich zu berühren erkennend - den Guru vergessend und missachtend - ich weiß es nicht, geht er: ein Pappdeckel zwischen der Spucke der Männer und mir, ein schmaler Pappdeckel, die die Entfernung zur Gemeinschaft der Weißgekleideten unerträglich vergrößert, die Wahrnehmung schärft, die Unerträglichkeit spürend mich selbst sehen lässt - jetzt geht es um mich - sein Insverderbenzurückkommen lässt mich gehen, wobei ich mich aufgrund der Aufjedenfallnurbesserwerdengewissheit nicht frage wohin.

 

Frankreich - immer noch im Süden - die Männer sind Kollegen - die Straßen ungeteert - sie gehen langsamer - hinter mir - reden miteinander - sehen nichts - ich gehe mit den Augen - wie ich schon immer mit den Augen vorausgewandert bin - Versteinerungen suchend - keiner Matsche am Rand ausweichend - Dreck nicht an mir wahrnehmend und doch Angst vor Dreck, wenn er von Weitem zu sehen ist und ich überlegen muss, hineinzugehen. Mit den Nichtdrecksehaugen und dem Wasichwohlgleichfindevorfreudegefühl, das das Herz schier zerspringen lasst - wenn´s gefunden - und es findet sich immer wenn das Wasichwohlgleichfindevorfreudegefühl da war, gehe ich voraus - bin jünger - bin Frau.

 

In Frankreich - auch nicht im Süden - da gibt es doch nicht - auch nicht im Süden - das müsste ich wissen - aber warum denn nicht - es war doch vorher da - das Wasichwohlgleichfindevorfreudegefühl - also gibt es sie - in Frankkreich - im Süden.

Nehme die Schildkröte hoch - winzig ist sie - von Weitem sah sie aus wie das mir liebste aller Tiere - auch wenn das dieses Schadenureinekleine dabei war - genau die eine Größe, die Größe, die ich mir vorstelle, weil es Suleikas Größe ist, die einzig schildkrötige Größe für mich, die kann es nicht sofort geben - nehme also diese hoch.

Der Vielleichtkommtnocheinebesseregedanke verwandelt sie in eine Echse - klein, wuselig, krokodilsähnlich - zwingt mich, den Schatz niemalshergebenwollend, ein länglichspitzmauliges Gewusel mitzutragen - weiterzutragen, es wohlwollend in eine Schildkrötenart - eine französische aus dem Süden - hineinzuphantasieren bis unerwartet die Böschung vor mir liegt.

 

Das ist Sie. Sie habe ich gesucht. Auch mit dem Matsch überall auf dem Panzer würde ich sie an der Größe erkennen. Viele laufen da - die anderen sind viel größer. Das sind jetzt Schildkröten - auch in Frankreich -im Süden gibt es welche - ich habe es immer gewusst.

Den Tausch einleitend, kein Unheil vorausahnend gehe ich um die matschigackersumpfige Wasserstelle links herum - setze das winzige Gewusel hinein - zugleich entsetzt wissend, was seine Berühunug mit dem Wasser bewirken wird - erschaudert durch die Gewalt der Stimme eines ausgewachsenen Allogators, der - seinesgleichen findend - diesen letzten Tümpel der Schildkröten im Süden Frankreichs ausrotten wird.

 

Mit jedem der alligatorenschreibeschleunigten Schritte der Kollegen verschwinden die Schildkrötenriesen im Wasserloch unter den Pappen, die Bretter sind, sich schieben lassen, auch Dachpfannen, ziegelrote Dachpfannen. Als die alle da sind, war ich noch nicht bei ihr und nun ist sie weg - egal - eine wenigstens - sehen - berühren - nur ein wenig enttäuscht sein, dass sie nicht die richtige Größe hat und mich dann trösten und in die richtige hineinphantasieren - eine nur. 

Unerträglich die Ahnung, dass alle verschwinden, dass keine mehr da sein wird, dass die Hoffnung vergebens war - nur berühren - nur genau ansehen - allein ansehen - ungestört - ungefragt - gewiss meines meinzigartigen Gefühls.

Ihre Beine haben sie schneller hergetragen - ihre längeren Arme schieben die schmutzigroten Ziegelhalbmonde vorsichtigsicher zwischen den kaum erkennbaren Rücken und dem gurgelndschmatzendem Brackwasser zusammen - unfassbar - eine nach den anderen verschwindet unter meiner unfasslichen Ahnung eines Soistsicherbesserentsetzens, das auf mich zukriecht.

 

Die Unerträglichkeit unterbrechend verführt erneute Ablenkung die bereite Traurigkeit in hoffende Phantasie, um den Schmerz zu vertiefen, den Schrecken zu verlängern, auf ein ungewisses Schlimmes zuschaukelnd, es nie erreichen werdend und dennoch die Wahrheit erfolgreich vertuschend, den Blick nie freigebend auf den wahren Schrecken - das von mir hoffnungsvoll angetriebene Schaukeln: Da ist noch eine - eine außerhalb des Sumpfes - eine in der Größe ihr ähnlich - nicht ganz, aber wenn man sich ein wenig bemüht -

Ihre Bewegung stört die notwendige Anstrengung, sie etwas kleiner vorzustellen- ihre Bewegung, die nicht ein darf - auch nicht in Frankreich - und nicht sein kann - auch nicht ganz im Süden: Sie verlässt den Panzer, den runden - ganz einfach, geht einfach heraus, löst sich, wird klein, kurz und unähnlich allem Vorstellbarem.

 

Zu schnell - keine Zeit lassend dem Erschrecken nachspürend zu trauern, zu staunen, um ihm dann wieder etwas Positives abgewinnen zu können, schaukelt der Blick auf den Schrecken im woherauchimmervonhintenbeleuchteten Innern des runderwerdenden Panzers, vorausgesehen schreckerhalend die Ahnung der Schaukel von einem noch schrecklicheren Ungewissen, erfüllend, starren die herzkrampfenden Augen auf das wuselende, langschwänziglangmäulige Winzige - den Schrecken schon wissend, der danach kommt, wie einer dem anderen folgt.

 

Das unabwendbare Tempo der Schaukelgewalt breitet den Teppich aus für ihre Komplizin Phantasie: Vielleicht - wenn ich mich bemühe - mir einfach nicht traue - ein wuselndes, langschwänziglangmäuliges Winziges ist bestimmtein Schildkrötenjunges - 

Alle spontanen Erfahrungswarnrufe niederschmetternde Wennichabers treiben die Schaukel in schwindelerregendes Tempo, das zu stoppen unmöglich scheint.

 

Der plattenschiebende Kollege oder ist es ein anderer oder sind es alle - sie brauchen es nicht mehr zu sagen - ich sehe es nichtwahrhabenwollend auch: Unaufhaltsam wandelt sich der Panzer in die brackwasserbedeckende Dachziegelpappe.

 

14.01.2001