Die Wunderblume


In einer Zeit, in der die Erde von der Üppigkeit der prächtigsten Pflanzen und ältesten Bäumen überzogen war und täglich neue Formen und Farben entstehen ließ, in der es noch keine Menschen gab, lebten die Pflanzen glücklich miteinander, erfreuten sich ihrer Schönheit und Vielfalt. Jede versuchte sich ein ganz eigenes, freund- interessantes Aussehen zu geben. Nicht etwa um die anderen zu beeindrucken oder zu übertreffen. Nein, einfach um die anderen zu erfreuen, denn jeder neue Eindruck ließ bei den anderen mannigfaltig neue Ideen sprießen.

 

Alle liebten die Abwechslung, die ihnen der Tag und die Nacht boten - wie wärmten sich an der Sonne, die ihnen ihre Farben gab und nahm und sie kühlten sich im Mondlicht, in dem sie plötzlich alle dieselbe Farbe und doch andere Formen hatten und fühlten sich ganz eins, wenn es Nacht war.  Auch liebten sie den Wechsel der Jahreszeiten, die ihnen abwechselnd Gelegenheit zur Ruhe und zur Stärkung und zur überschäumenden Energie der strotzenden Tage gaben. Unvorstellbar, dass eines Tages dieses friedliche, überreiche Leben einmal einschneidenden Veränderungen unterworfen sein sollte.

 

Und doch vollzog sich unmerklich eine Veränderung, die schleichend kam und zunächst unbedeutend erschien und dennoch später das Leben der Pflanzen auf der Erde veränderte.

 

Überall wo Tiere auftauchten freuten sich die Pflanzen an deren Formen und Fähigkeiten. Sie versuchten sie nachzuahmen in ihrer eigenen Art und bewegten sich nicht mehr nur im Wind, sondern rechten ihre Gesichter und Arme der Sonne entgegen, um auch mit ihr ihre Freude zu teilen. Sie baten die Winde, ihre Samen weit über die Erde hinwegzutragen, damit ihre Kinder andere Gegenden sehen könnten, wie die Tiere es taten, die kam und gingen. Sie bemühten sich, den Tieren Signale zu geben mit ihren Farben, sie anzulocken, wenn sie gemeinsam leben wollten mit ihnen oder sie abzustoßen mit ihrem Geruch, wenn sie noch Zeit brauchten auf der Erde und noch nicht als Nahrung dienen wollten oder sie ahmten die Tiere nach in ihrer Tarnung, wenn  ihnen danach war, einfach friedlich und unbeobachtet ihr Leben zu genießen.

 

Einige Blumen, die die Tiere sehr genau beobachteten, glaubten zu bemerken, ja fast zu wissen woher die Tiere ihre Kraft nahmen sich zu bewegen und den Ort ihrer Geburt verlassen zu können wann sie wollten und zu ihm zurückzukehren wann immer sie wollten. Aus der Bewunderung dieser Fähigkeit erwuchs ganz heimlich bei diesen Blumen die Sehnsucht nach einer unbekannten Ferne, die den Keim des Neides in sich trug.

 

Erst als die Menschen auftauchten, mussten die Pflanzen um ihre Leben fürchten und zusehen, dass sie beachtet und ebenbürtig behandelt wurden.

Woher hatten die Menschen all die Kraft, scheinbar aus dem Nichts zu erscheinen und alles zu verändern was seither so sicher gewesen war?

 

Die Blumen, in denen der Keim des Neides gewachsen war, beobachteten die Menschen genau und gaben sich viel Mühe ihnen zu gefallen und sie zu erfreuen. Dankbar waren sie, wenn sie den Menschen als Schmuck dienen durften - auch zum Preis eines verkürzten Lebens.

 

Mit der Zeit stellten sie fest, dass die Menschen nicht immer diese unbändige Kraft besaßen. Wenn die Sonne dem Mond ihren Platz am Himmel überließ und Pflanzen wie Menschen, Tiere und Menschen dieselbe Farbe hatten, schien ihre Zauberkraft zu erlahmen und sie verharrten stille und schlossen die Augen, als könne der Mond ihnen nur so wieder neue Kraft einflößen - die Zauberkraft, die ihnen ermöglichte, sich zum Herrschenden über die Lebewesen zu erheben.

 

Als sie das erkannt hatten, entschlossen sich die Blumen von nun an dem Beispiel der Menschen zu folgen. Während die Sonne am Himmel stand, wärmten sie sich fröhlich und erfreuten alle Lebewesen mit ihrer Farbenpracht und Formenvielfalt. Wenn aber die Sonne unterging und sich die Erde in den Mantel der Dunkelheit hüllte, falteten sie sorgfältig alle Blütenblätter zusammen und bedeckten damit ihre Augen, um wie die Menschen die Kraft des Mondes in sich aufnehmen zu können.

In ihren Träumen, die nun häufiger kamen, sahen sie sich mit den Menschen hüpfend und springend die Welt erobern und fühlten sich ihnen sehr nahe. Je öfter sie das taten, desto sehnsüchtiger wurden sie - ganz gleich ob die anderen Pflanzen sie warnten oder verspotteten. Zwar waren sie manchmal traurig. dass sie es sich nicht mehr erlaubten, den Mond anzusehen und ihn zu erfreuen, doch das schien ihnen der Preis zu sein für die Erfüllung ihrer großen Sehnsucht.

Auch wenn diese sich noch nicht erfüllt hat, so haben sie doch erreicht, dass es Menschen gibt, die sich durch sie den Pflanzen nahe fühlen - so nahe, weil sie eine Gemeinsamkeit entdeckt haben, die sie erfreut uns aus der die Achtung, die nur Liebe zu wecken vermag, erwächst.

 

Donatus Angele, 30. Mai 1999