20 Jahre Stolpersteine

Lernen aus der Vergangenheit in der Gegenwart und für die Zukunft

Das »Nie wieder!« Wirklichkeit werden zu lassen, ist das grundlegende Ziel der Erinnerungs- und Gedenkarbeit. 

Das Lernen aus der Vergangenheit kann nur im Hier und Jetzt geschehen, und es ist ausgerichtet auf die Zukunft.

 

Die Erinnerungs- und Gedenkkultur der Stolpersteine nimmt eine wichtige antifaschistische Aufgabe wahr: Im öffentlichen Raum erinnern tagtäglich

die Namen von Menschen, die von 1933 bis 1945 im NS-Staat entrechtet, verfolgt, ermordet oder zum Suizid getrieben wurden, an deren Schicksal und zugleich an die unmenschlichen Taten der deutschen Faschisten.

 

Menschen ihre Sichtbarkeit an ihrem letzten frei gewählten Wohnort zurückzugeben, bedeutet, sie und ihre Geschichte wieder in die Gemeinschaft zu holen, mahnend zu erinnern und sich darüber auszutauschen, wie wir leben wollen.

 

Die Sozialisten, Sozialdemokraten und Kommunisten, die lange vor 1933 gewarnt hatten, dass Hitler Krieg bedeutet, und die Wege in  antikapitalistische Perspektiven aufzeigten, waren die ersten, die verfolgt, eingesperrt, gequält und ermordet wurden.

 

Erst durch die Inhaftierung ihrer politischen Gegner und die Zerschlagung der antifaschistischen Parteien, bevor noch ein breites Bündnis geschmiedet

wurde, ermöglichte den Faschisten ihr Mordwerk. Bei Stolperstein-Rundgängen sind Menschen oft erstaunt über diesen Gedanken, vermuten doch viele, Stolpersteine würden allein für jüdische Menschen verlegt.

 

Der Kölner Künstler Gunter Demnig, dessen umfangreiches Lebenswerk mittlerweile mehr als 100.000 weltweit verlegte Stolpersteine umfasst,

bezieht alle NS-Verfolgten gleichermaßen ein. Das deutsche Kapital ermöglichte aufgrund seines nach dem Ersten Weltkrieg immens gestiegenen Hungers nach Rohstoffen und Märkten der NSDAP die Übernahme

der Macht und die Vorbereitung und Umsetzung des Zweiten Weltkrieges.

 

Dies war nur möglich durch schnelles Ausschalten möglichst aller politischen Gegner und die Suche nach einem »Sündenbock«, der wie in althergebrachten Verschwörungsmythen wieder ein sogenanntes

Weltjudentum und demagogisch auf den einzelnen Menschen heruntergebrochen »Der Jude« sein sollte. Dass Menschen vor 1933 gerne und in Freundschaft mit ihren jüdischen Nachbarn lebten, wird durch die

Beschäftigung mit den Menschen hinter den Stolpersteinen erfahrbar. Die dadurch angestoßene Begegnung und der Austausch mit Jüdinnen und Juden im heutigen Alltag schafft Verständnis und Nähe über den Holocaust hinaus in Fragen der Gegenwart.

 

In seinem sehenswerten Film »Masel Tov Cocktail« lässt der Filmemacher Arkadij Khaet einen Jugendlichen Stolpersteine putzen – es sind die der Stuttgarter Sinti-Familie Schneck. Mehrfach »outeten« sich Schüler beim Besuch der Stolpersteine erstmals vor ihrer Klasse als Rom oder als Sinto, wertvolle Gespräche entstanden. Bis heute fühlen sich diese Menschen

bedroht, sie verbergen ihre Gruppenzugehörigkeit, anstatt sie stolz zu zeigen – so viele Jahre nach dem Porajmos, dem Völkermord an Sinti und Roma

(siehe Seite 29). Wenn es nicht gelingt, Minderheiten als wertvollen Teil einer vielfältigen Gesellschaft wahrzunehmen, geht enorm viel Kultur und Menschlichkeit verloren.

 

Stolpersteine erinnern an Menschen, die den Kriegsdienst verweigerten, an Deserteure und Zeugen Jehovas und an Menschen, die vom NS-Regime fabrikmäßig ermordet wurden, weil sie krank waren oder eine Behinderung hatten und so »hinderlich« für die Kriegsmaschinerie der Nazis waren. Dass Holocaust und Porajmos an den PatientInnen von Kliniken und Heimen erprobt wurden und mit welch grauenvoller Propaganda der NS-Staat diese Menschen diffamierte, um sein tödliches, zunächst heimliches und niemals legitimiertes Todeswerk durchzuführen und zu rechtfertigen, wird oft erst bei den Gesprächen zu Stolpersteinen deutlich und führt in die Diskussion um eine lebens- und liebenswerte Gesellschaft für alle Menschen – gerade für alte oder kranke beziehungsweise Menschen mit Einschränkungen.

 

Stolpersteine erzählen auch vom Leid homosexueller Männer und Frauen oder von Menschen, die als »arbeitsscheu« oder »kriminell« verunglimpft wurden,

die doch gute Nachbarn waren, bevor die NS-Propaganda es schaffte, sie zu diffamieren und den Mord an ihnen als gerechtfertigt erscheinen zu lassen.

AntifaschistInnen in aller Welt haben sich seit mehr als 20 Jahren dem Projekt von Gunter Demnig angeschlossen, weil die vor dem letzten frei gewählten Wohnort im Gehweg verlegten zehn mal zehn Zentimeter

großen Zementquader mit den gravierten Messingplatten das Gedenken an einen Menschen und zugleich das Lernen aus der Geschichte ermöglichen.

 

Die Ehrenamtlichen recherchieren in Initiativen ohne zentralen Zusammenschluss Biografien, beschreiben und veröffentlichen die Geschichte der NS-Opfer und ihrer Täter, arbeiten mit Schulen und Jugendeinrichtungen

zusammen, sammeln Spenden für die Herstellung der Stolpersteine (je 120 Euro), kooperieren mit Gedenkstätten, Archiven und Stadtverwaltungen

und pflegen Beziehungen zu Nachfahren in aller Welt.

 

Die Erforschung der Geschichte eines Menschen macht das Lernen aus der Geschichte für viele Menschen möglich und trägt zum Zusammenschluss friedliebender Menschen bei, die dafür sorgen, dem Faschismus keine Chance mehr zu bieten, sondern das »Nie mehr« Wirklichkeit werden zu lassen.

 

Erschienen in der VVN/BdA-Zeitschrift Antifa, Januar/Februar 2024