Nachbarschaftsgesten


Unsere Hausbesitzerin, eine feine Frau mit einem warmherzigen Sinn für die Pflege einer guten Hausgemeinschaft, ist vor acht Jahren gestorben. Seither setzen wir ihren Weihnachtsbrauch fort, den Nachbarn im Haus ein Päckchen selbstgebackene Gutsle oder ein selbst eingekochtes Gelee - in diesem Jahr war es Quittengelee - an die Tür zu hängen. Immer mit einem Kärtchen mit Weihnachtswünschen und der Erinnerung an die Urheberin dieser verbindenden Nachbarschaftsgeste.

 

Wir wissen nicht genau von allen zwanzig Haushalten, wie der kleine Gruß ankommt, doch vielen freuen  und bedanken sich - mal beim gelegentlichen Vorübergehen im Treppenhaus oder mit einem Teller voll köstlichster, formvollendeter, selbstgebackener Süßigkeiten wie die Familie aus Syrien oder ... . Dieses Jahr klingelte es und der Mann aus der UG-Wohnung, der aus Armut zum Betteln geht, stand schnaufend vor unserer Tür - vorschriftsmäßig mit Maske - und streckte uns mit besten Weihnachtsgrüßen eine Flasche Weißwein hin "Ich trinke ja keinen Wein" - dankbar für die Tüte mit Lebensmitteln, die wir ihm zu Weihnachten an die Tür stellen. 

 

Dieses Jahr können wir gar keinen hereinbitten zu uns an den Tisch, an den Tannenbaum, in die warme Stube.  Dieses Jahr ist so vieles anders - die Tochter unserer verstorbenen Hausbesitzerin verkauft die geerbten Häuser in unserem Viertel und das ganz Jahr über schwebt über uns die bange Frage "Wann und an wen werden wir verkauft". Bitten und Appelle, Erinnerungen an das Vermächtnis der Mutter halfen nichts - in erster Linie zählt nicht, dass da eine Hausgemeinschaft - fast 50 Menschen in 20 Wohnungen - ist,  die sich gegenseitig trägt. Gerade jetzt, in einem solchen Jahr der Unsicherheit braucht es das Zeichen der Nachbarschaft, braucht es wieder ein Weihnachtspäckle vor der Tür und hörbar durchs Haus schallende Weihnachtslieder gesungen, auf dem Klavier gespielt und mitgesummt. Gemeinschaft spüren - das ist Weihnachten. 

 

Gegenseitig Päckle annehmen, die Kehrwoche tauschen, im Urlaub nach der Post des Nachbarn sehen, nachfragen ob man etwas mit hoch tragen kann, die Zeitung weitergeben, etwas Aufheben, das man nicht heruntergeworfen hat, ein auf dem Balkon gelandetes Nachbarklämmerle abgeben, den Parkplatz freimachen für einen Gast, sich grüßen und ein Schätzle halten, sich die Tür aufhalten oder neuen Mietern freundlich die Müllgepflogenheiten erklären, Corona-Schutzhinweise in Arabisch und Koreanisch im Treppenhaus aushängen, weil das weder von der Hausverwaltung noch vom Gesundheitsamt kommt, nachfragen wie es der Mutter, den Kindern geht, miteinander über die Sorgen sprechen, die Hellhörigkeit des Hauses überhören, wenn das nicht angebracht scheint, Informationen weitergeben, nicht mehr Gebrauchtes zum Mitnehmen zur Verfügung stellen ... - Nachbarschaftsgesten, die nicht selbstverständlich sind, zumindest nicht überall - bei uns im Haus schon - solch ein Glück haben wir.