Der Bruder unsrer Lehrerin


50 Jahre ist das her ...

50 Jahre ist das schon her...
Als das Schuljahr 1970/1971 nach den bis 8.9. 1970 dauernden Sommerferien begann, kam ich in die 7. Klasse des Wirtemberg-Gymnasiums und bekam eine neue Klassenlehrerin: Jutta Lausen, die nach ihrer Hochzeit Lausen de LLoréns hieß und die wir fortan nur "Lausende Lorens" nannten. 

 

Ich kannte sie bereits, denn sie leitete den Schulchor und das war ja mein drittes Jahr im Wirtemberg-Gymnasium in Stuttgart-Untertürkheim.

 

Ihre Geigenkünste habe ich bewundert, ihre Chorleitung war mir Vorbild - auch für mein späteres Musikstudium, doch ihr organisatorisches "Genie-Chaos" amüsierte uns und nahm uns ein wenig den Respekt vor ihr.

 

Noch keine ganze Schulwoche war um, als unsere Lehrerin, die wir nun auch in Deutsch hatten - ebenfalls einem Lieblingsfach von mir - morgens zu spät hereinkam, sich weinend auf den Lehrerpult war, was uns sehr verwirrte, weil es uns reichlich theatralisch vorkam. Manche haben sogar gelacht, weil es eine solch irreal-peinliche Situatioin für uns Dreizehnjährige war. Wir waren es ja gewohnt, dass sie manchmal etwas seltsam war. Sie brachte vielfach ihre kleine Tochter mit in den Unterricht. Wir beschäftigten uns bisweilen lieber mit Rebekka als mit dem Unterricht und unserer Lehrerin war das auch recht so - offenbar hatte sie keine andere Unterstützung. 

 

Wir Mädchen aus dem Chor, die sie ein wenig besser kannten, gingen nach vorn zum Pult und fragten sie, ob ihr nicht gut sei, ob wir Hilde holen sollten oder oder ob etwas mit ihrer Tochter passiert sei.
"Mein Bruder hat sich umgebracht!" Als unsere Lehrerin diesen Satz dann immer wieder ausstieß, war uns klar, dass etwas Geschehen war, das unsere Dimension an Hilfe überstieg und wir holten Hilfe - den Schulleiter. Froh waren wir, als dieser sie mitnahm und sich kümmerte und wir uns erst einmal unter uns austauschen konnten. 

 

Kaum jemand von uns wusste von jemandem, der Selbstmord begangen hatte.

 

Als ich es zu Hause erzählte, war es wie immer bei wichtigen Fragen: Das ist nichts für Kinder - und dann wurde nicht mehr darüber geredet. 

 

So schafften wir es auch lange nicht, mit unserer Lehrerin, die ja weiter arbeiten musste, das Thema nochmals anzusprechen oder nach ihrem Bruder zu fragen.

 

Erst über die gemeinsame musikalische Arbeit erfuhr ich von ihr, dass ihr jüngerer Bruder ein Maler gewesen war: Uwe Lausen
Auch ich habe einen Bruder, der wenige Jahre jünger ist als ich und für den ich mich immer verantwortlich gefühlt habe. Ihn zu verlieren,  das wäre für mich ein entsetzlicher Schwerz gewesen. Nun konnte ich schon mehr verstehen.

 

Es dauerte bis nach meiner Schulzeit bis ich Interesse an den Bildern, die Uwe Lausen gemalt hat, entwickelte und mich auf die Suche machte. 

 

Jahre später habe ich mir dann einen Katalog gekauft - eines seiner Bilder hätte ich mir nicht leisten können. Immer wieder habe ich im Katalog nachgelesen und geschaut und mich immer wieder auch in meiner Jugendzeit gefunden, in der die Antworten der Erwachsenen so unbefriedigend waren, manchmal auch nur aus einer Ohrfeige bestanden für eine Frage "Was habt Ihr gemacht?" oder Unverständnis zeigten für unsere Vorstellung einer gerechteren und freieren Welt als die, die wir vorfanden mit von Krieg und Faschismus verhärteten und stumm gewordenen Väter und ängstlichen Mütter
Ich freue mich sehr auf die Ausstellung, die ab Mitte Juni 2020 in der Staatsgalerie zu sehen sein wird. Gerne informiere ich meine Klassenkameradinnen von damals und Freunde - ein gemeinsamer Besuch kann viele Erinnerungen wecken.

 

Auf ihrer Geige hat Jutta - wie ich sie später nennen durfte - auch im Alter noch gespielt - bis sie im Dezember 2013 starb - nach 43 Jahren ohne ihren kleinen, sensiblen Bruder Uwe.

 

Wie schön ist es doch, dass die Staatsgalerie Stuttgart den Maler Uwe Lausen seinen Namen und seine Kunst wieder zurückbringt in seine Geburtsstadt, in der seine Schwester zeitlebens den Kummer aushielt.