Ansprache zum 74. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz

 

Als Mitglied der Stolperstein-Initiative Stuttgart-Ost wurde ich gebeten, etwas zu den sogenannten Opfergruppen zu sagen.

Wenn wir aus der Vergangenheit lernen wollen für die Zukunft, ist es zunächst wichtig, den Überlebenden gut zuzuhören.

 

Elisabeth Guttenberger, Überlebende des Porajmos, des Verschlingens wie Sinti den Völkermord der Nazis nennen, Elisabeth Guttenberger, die im Februar 1926 in Stuttgart geboren, am 16. März 1943 mit ihrer Familie von München nach Auschwitz deportiert wurde und für die bis heute jeder Tag unendlich schwer ist, erzählt:

 

Als wir nach Auschwitz deportiert wurden, blieb unser Zug aus irgendeinem Grund plötzlich stehen. Aus der Gegenrichtung kam auch ein Zug, der genau neben uns gehalten hat. Da konnten wir dem Lokführer direkt ins Gesicht sehen, und mein Vetter fragte ihn: “Sagen Sie mal, wo ist das, was ist denn dieses Auschwitz?” Ich vergesse niemals die Augen dieses Lokführers. Er hat uns angestarrt und kein Wort herausgebracht. Denn er war einer von denen, die diese schrecklichen Menschentransporte fahren mussten. Er konnte nichts sagen, er hat durch uns hindurch gesehen. Erst in Auschwitz habe ich begriffen, weshalb dieser Mann uns keine Antwort geben konnte. Er war wie versteinert.

 

In ihrer Rede bei einer Gedenkveranstaltung am 16. Mai 2004 in Berlin sagte Elisabeth Guttenberger: „Man kann Auschwitz mit nichts vergleichen. Es ist immer noch unbegreiflich, wie es möglich war, an einem einzigen Ort so viele Menschen auf bestialische Weise umzubringen. Über 30 Angehörige habe ich in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern verloren, darunter meine Eltern und meine vier Geschwister. Ich allein habe überlebt. ….. Es ist mein größter Wunsch, dass die heutige und künftige Generation aus unseren schrecklichen Erfahrungen lernt, und dass Auschwitz nie wieder Wirklichkeit werden kann.“

 

Wie sorgen wir dafür, dass Auschwitz nie wieder Wirklichkeit werden kann?

 

Wie können wir aus der Vergangenheit lernen, menschlich und mutig handeln in der Gegenwart im Blick auf eine menschenwürdige und -werte Zukunft für alle Menschen.

 

Noah Flug, der 1925 in Lodz/Polen geborene Auschwitz-Überlebende, der 2011 in Jerusalem starb, sagte 2010 als damaliger Präsident des Internationalen AuschwitzKommitees:

 "Die Erinnerung ist wie das Wasser: Sie ist lebensnotwendig und sie sucht sich ihre eigenen Wege in neue Räume und zu anderen Menschen. Sie ist immer konkret: Sie hat Gesichter vor Augen, und Orte, Gerüche und Geräusche. Sie hat kein Verfallsdatum und sie ist nicht per Beschluss für bearbeitet oder für beendet zu erklären.

 

Auch deshalb wollen wir als Opfer und sollen wir als Opfer nicht vergessen werden. Auch die heutige und die zukünftige Welt müssen wissen, wie das Unrecht, die Sklaverei der Zwangsarbeit und der Massenmord organisiert wurden und wer die Verantwortlichen dafür waren. Dies soll immer wieder dokumentiert und den jungen Menschen erklärt werden: Zur Erinnerung an uns und unsere ermordeten Angehörigen und zu ihrem Schutz in ihrer Zukunft. Diese Erinnerung an unser Leid und an die Verbrechen der Nationalsozialisten soll deshalb auch zukünftig [..]ein zentraler Aspekt der großen Menschenrechtsdebatte, die weltweit geführt wird."

 

Der Nationalsozialismus benutzte die Juden – wie schon andere Herrschaftssysteme dies getan hatten - als Feindbild, um von den wirklichen gesellschaftlichen Problemen, die sein barbarischen System der gnadenlosen Eroberung der Welt verursachte, abzulenken. Damit wurde ein ganzes Volk mit einem Feindbild zu belegt, das es als bedrohlich überhöht und ein Zerrbild zeichnet, das den Nazis den Holocaust ermöglichte und das bis heute in Verschwörungstheorien weiterlebt.

 

Wie konnte das geschehen? Wie konntet Ihr das zulassen?

 

Diese Frage, die ich in meiner Herkunftsfamilie nie beantwortet bekam, die ich mir immer wieder neu stelle und die es immer wieder zu diskutieren gilt.

 

Kein sinnreiches Zitat erinnert uns an all die Menschen, die ermordet wurden, weil sie den Kriegsplänen der Nationalsozialisten im Wege standen, an die Menschen, die das NS-System mit erniedrigenden Zerrbildern belegte, systematisch in erniedrigende Schubladen wie „Asoziale“ „Arbeitsscheue“ presste und sie zur Hunderttausenden in den Lagern ermordete.

 

Lernen für die Zukunft bedeutet auch zu verstehen, dass zwischen 1933 und 1945 diejenigen Menschen, die nicht bereit oder nicht in der Lage waren, das unmenschliche NS-System und seine Kriegspläne zu unterstützen, systematisch erfasst und ermordet wurden.

 

In Stuttgart wurden in den letzten 20 Jahre ca. 900 Stolpersteine verlegt. Diese gespendeten Kleindenkmalen ermöglichen im öffentlichen Raum mehr von der Geschichte des eigenen Wohnorts zu erfahren. Sie geben den Menschen, die zwischen 1933 und 1945 aus dem Stadtteil deportiert und ermordet wurden, durch Erforschung ihres Namens, ihrer Geschichte und durch die Verlegung Ihren Namen und vielleicht dadurch einen Teil ihrer Würde wieder. Mit der Erinnerung als Mahnung für die Zukunft, den Forschungen, Verlegungen und Führungen tragen die Stolperstein-Initiativen zur politischen Bildung – vor allem auch junger - Menschen bei.

 

Stuttgarter Stolpersteine und Aufschriften an dieser Gedenkwand hier erinnern auch an die Stuttgarter ermordeten Sinti und Roma.

 

Für die Zukunft gelernt haben wir aber erst, wenn keine Sintezza, kein Sinto, kein Rom seine Volkszugehörigkeit mehr verschweigen muss aus Angst vor Diskriminierung, wenn Angehörige dieser Minderheit wirkliche Bildungschancen haben.

 

Um für die Zukunft zu lernen, ist die Erinnerung an die mehr als 200 000 Menschen, die aufgrund ihrer körperlichen, geistigen oder seelischen Erkrankung ermordet wurden, unabdingbar und die Frage darf und soll gestellt werden: Warum gibt es immer weniger Menschen mit Trisomie21, dem sogenannten Down-Syndrom? Hinter den chic klingenden Begriffen „Designerbaby“ und „Genschere“ verbergen sich die Vorstellungen eines „Menschen nach Maß“ und keinesfalls einer Wertschätzung der Vielfalt des Lebens.

 

Um für die Zukunft zu lernen ist es wichtig, dass wir von denen wissen, die aus politischen oder religiösen Motiven aktiven oder passiven Widerstand gegen das Regime leisteten, von den Kommunisten, den Sozialdemokraten und anderen politische Gegner des NS-Systems.

 

Gelernt haben wir dann, wenn Gedenksteine wie der für Lilo Hermann im Stuttgarter Unipark nicht geschändet, sondern als die Erinnerung als Mahnung für die Zukunft gepflegt werden.

 

Um für die Zukunft zu lernen ist es wichtig, dass Jugendliche erfahren von den nicht angepassten und Widerstand leistenden Jugendliche wie den teilweise aus den Naturfreunden oder dem Rotfrontkämpferbund hervorgegangenen „Edelweißpiraten“, die u.a. Juden verstecken und versorgten, von der mutig-frechen Abgrenzung der Swingjugend.

 

Wie provokativ darf also Jugend heute sein wäre ein guter Maßstab. Darf ein 16jähriges Mädchen den Mächtigen der Welt sagen, dass die Zeit der Höflichkeiten vorbei ist mit den Worten: „Ich will, dass ihr handelt, als wenn euer Haus brennt, denn das tut es. Erwachsene sagen immer wieder: Wir sind es den jungen Leuten schuldig, ihnen Hoffnung zu geben. Aber ich will eure Hoffnung nicht. „Ich will, dass ihr in Panik geratet, dass ihr die Angst spürt, die ich jeden Tag spüre. Es hat den Anschein, dass Geld und Wachstum unsere einzige Sinnerfüllung sind.“

 

Um für die Zukunft zu lernen ist es wichtig, dass wir erinnern an die rund 30 000 ermordeten Kriegsverweigerer, die sogenannten Deserteure, dessen 2007 von 300 privaten Senderinnen und Spendern ermöglichtes und vom Aulendorfer Künstler Nikolaus Kernbach geschaffenes Denkmal in Stuttgart bis heute noch nicht vom Pragsattel in die Innenstadt gebracht werden konnte.

 

In Stuttgart wurden bisher auch zwei Stolpersteine für ermordete Homosexuelle verlegt.

 

Um für die Zukunft zu lernen, ist es wichtig, dass wir die nachhaltig diskriminierende Erziehung, die bis heute wirkt und Menschen ein schweres Leben in Scham und teilweise Angst zumutet, hinterfragen und dafür sorgen, dass sich niemand mehr schämen muss für sein Geschlecht, seine sexuelle Orientierung. Ein wichtiger Maßstab zur Akzeptanz der Vielfalt wird nicht zuletzt die historische Aufarbeitung des Unrechts sein gegenüber den Menschen, die wegen ihres Geschlechts und/oder wegen ihrer Liebe und Sexualität in der Zeit des Nationalsozialismus ausgegrenzt, unterdrückt und entwürdigt wurden.

 

Um für die Zukunft zu lernen ist es wichtig, dass unzählige Menschen zwangssterilisiert und damit unwiederbringlich ihrer Zukunftsperspektive und der ihrer Familie beraubt wurden. Das grausame Wort „Vernichtung“ bleibt so bei Überlebenden eine täglich grausamer werdende Wirklichkeit.

 

Um für die Zukunft zu lernen ist es wichtig, dass wir uns erinnern an die Menschen, deren Glauben die Nazis zum Anlass nahmen, sie zu ermorden, weil sie fürchteten, dass diese ihren Kriegsplänen im Wege stünden, an die ermordeten Katholiken und die Zeugen Jehovas, die man abwertend „Bibelforscher“ nannte und ermordete, weil sie den Kriegsdienst und den Hitlergruß verweigerten.

 

Die Frage ob der Islam zu Deutschland gehöre ist nur ein Ausdruck der Frage wie es um unsere Offenheit gegenüber Religionen steht.

 

Um für die Zukunft zu lernen ist es wichtig, dass wir uns erinnern an die ermordeten Kriegsgefangenen, die Zwangsarbeiter und die Deportierten aus den von NS-Truppen eroberten Gebieten, zu denen nicht zuletzt die 143 unbekannten sowjetischen und die 257 namentlich bekannten französischen Kriegsgefangenen aus dem Gaisburger Lager gehören, die in der Nacht zum 15. April 1943 bei einem Luftangriff starben.

 

Wenn mir ein langjähriger Naturfreund vor drei Tagen sagte: „Unser Ziel, eine Welt ohne Kriege zu schaffen, müssen wir aufgeben“ stellt sich die Frage für die Jugend: Wie gelingt es uns, doch nicht aufzugeben.

 

Esther Bejarano, die im Mädchenorchester von Auschwitz Akkordeon gespielt hatte und auch heute mit über 94 Jahren noch auftritt, wendet sich aktiv gegen Krieg und Nazismus:

 Ich wusste zunächst nicht, wie meine Eltern umgekommen sind; ich habe es erst später erfahren. Ich fand ihre Namen in einem Buch, in dem die Transporte von Breslau nach Kowno aufgelistet waren. Die Nazis haben ja ihre Verbrechen bürokratisch festgehalten. Und wenn ich mir vor Augen führe, dass meine Eltern sich in einem Wald nackt ausziehen mussten, man sie mit anderen Opfern in einer Reihe aufgestellt, dann einfach abgeknallt hat und sie dann in einen Graben gefallen sind – das ist für mich das Schlimmste und viel grauenhafter als all das, was ich in Auschwitz erlebt habe.“

Ihre Devise `Nie wieder Schweigen´ umsetzend stellte sie sich erst jüngst den Rappern Farid Bang und Kollegah entgegen.

Das Schlusswort überlassen möchte ich einer Frau, deren Namen Sie ebenfalls auf dieser Wand finden und die nach Auschwitz unermüdlich mahnt, nicht vom IHR, sondern vom WIR zu reden:

 

Inge Auerbacher (*31.12.1934), geboren in Kippenheim, aufgewachsen in Jebenhausen und Göppingen, Überlebende des Holocaust, wurde im August 1942 als Siebenjährige von hier - Stuttgart - nach Theresienstadt deportiert wurde. Inge Auerbacher rief am 27.12.2018 bei einer Ansprache in der Bruderhausdiakonie Reutlingen die Menschen auf, entschieden NEIN zu Rassismus und Antisemitismus zu sagen und sie schloss ihre – auch nach 70 Jahren in New York - in wunderbarem Schwäbisch gehaltene Rede in Englisch:

 My hope, my wish and prayer is for every child to grow up in peace without hunger and predjudice.“

 

Meine Hoffnung, mein Wunsch und Gebet ist es, dass jedes Kind in Frieden ohne Hunger und Vorurteil aufwachsen kann.“

 

27. Januar 2019