Man muss es mögen

Die Vögel singen in aller Frühe in bekannten und unbekannten Sprachen - unentwegt, zwitschernd und frei. Zum Glück hat die Luft über Nacht abgekühlt, doch nun ist alles feucht und beschlagen - selbst Knochen und Gelenke wirken verschleimt und zäh. Strecken und Aufstehen zur Ersthilfe. Den Bademantel übergeworfen, die Badetasche in die Hand, das Handtuch nach kurzem Dranriechen über die Schulter mitnehmend in das Gebäude schlurfend, in dem hinter mehr als der Hälfte der zahlreichen gleichen Türen bereits das Duschwasser rieselt - leider nicht prasselt, wie es jetzt wohl täte.

Nebenan kreischt ein Mädchen: Weil ihr das Shampoo in die Augen gekommen ist? Oder weil sie ihrem Ärger auf die Mutter Luft machgt, die sie zur Waschprozedur zwingt oder ihr sonst irgendeinen Willen nicht erfüllt hat? Mehrere Föhns zeugen von frisurbewussten Frauen im Vorraum - kann man deren Haare auch als pflegebedürftig bezeichnen oder trifft dies nur auf Alte und Kranke zu? Das kchkchkch von Barfüßen in Flipflops und das tschgschtschgschtschgsch der Entsprechenden in groben, grellfarbenen Plastikgartenschuhen unterscheidet sich deutlich von dem tsschtssch derer in Badelatschen. Ohne sie zu sehen, kann ich die Badelatschengänger von den Flipflopträgerinnen und den Grobplastikbeschuhten unterscheiden. Gebt mir 100 Fotos von Gesichtern und ich ordne die morgendliche - bisweilen auch ganztägige - Campingschuhbekleidung den weiblichen Trägerinnen zu.

Nicht alle sind am Berieselnlassen, am Immerwiederdenknopfdrückenmüssen, am Sorgsamgesichtcremen, am Vorbadeföhnfrisurauftürmen oder am Zurückschlurfen. Die Flotteste war schon beim Morgengrauen nebenan, stopfte die Waschmaschine voll mit dem bereits getragenen Viertel der von zu Hause mitgebrachten Bekleidung - den Lieblingsunterwegsstücken, die unbedingt wieder getragen werden wollen. Bis die ersten Männer sich auf den Weg zur Bäckerschlange machen und sich überlegen ob sie es tre piccolo pane oder tre pannini heißt, haben sie ihre Wäsche schon gekonnt auf die viel zu kurze, etliche Meter lange Leine drapiert wo sie die rasch höher steigende und spürbar heiß werdende Sonne bald trocknen wird. Wie viele dieser Fleißlieschen wohl ein Bügeleisen dabei haben? Noch schlurfen alle - selbst die Hundeausführer oder die vom Hund Ausgeführtwerdenden - ein wenig langsam, reiben sich den verbliebenen Sandmann aus den Augenwinkeln, schauen kaum auf - giorno murmelnd (man weiß ja vor dem Frühstück nicht ob der gut wird) - und wären gerne alleine auf dem Weg oder zumindest mit vielen gleichzeitig - die internationale Zweierbegegnung, vor allem die einer Gewaschenen und einer Ungewaschenen wirkt unfrei und irgendwie gezwungen. Tagsüber sind die fast babylonische Sprachenvielfalt, das freie Zuschaustellen der oftmals weder professionell gestochenen noch ästhetisch anzuschauenden Tattoos, das Tragen ungewohnt kurzer oder schlabberiger Hosen und Oberteile, das öffentliche Schlafen in jeder Stellung, das Schreien der Kinder samt elterlich-unterschiedlich professioneller Reaktion und das frühe öffentliche Alkoholtrinken eine regelrechte Selbstverständlichkeit, an der sich niemand stört. Das Verb "ungezwungen" soll diese Form des viel zu nah aufeinander Lebens in der kurzen Zeit, in der man sich vom Arbeitsalltag erholen soll, kennzeichnen. Das kann ich bei meinen Begegnungen auf meinem Weg ins Waschhaus keinesfalls unterstreichen - man muss es halt mögen... 

... und ich mag es, der Natur so nah zu sein.